Archivalie des Monats – Ausgabe 6/2017 Berliner Meilenstein – „Erinnerungszeichen“ an einen unhaltbaren Zustand
Steffi Crain
Auf dem grünen Mittelstreifen der Siemensstraße zwischen der Braunschweiger Straße und der Rathausstraße steht ein kleiner Stein – leicht bemoost, wie es der Witterung ausgesetzte Steine nach vielen Jahren oft an sich haben. „Berlin 228 km“ ist auf seinen beiden Seiten unter einen Berliner Bären eingemeißelt. Es ist ein sogenannter „Berliner Meilenstein“ und wie es sich für Meilensteine gehört, ist er an einer der vielbefahrensten Straßen in Wolfsburg aufgestellt.
Der erste dieser Berliner Meilensteine wurde im Januar 1954 an der heutigen A3, etwa 25 Kilometer von Bonn entfernt, aufgestellt. Seine Aufstellung geht auf ein Rundschreiben des Bundesministers für Verkehr, Hans-Christoph Seebohm (1903-1967), vom 24. November 1953 zurück, das dieser an die obersten Straßenbau-behörden der Länder verschickte. Den Anstoß dafür hatte der Berlin-Beauftragte der Bundesrepublik, der Verleger und Mitbegründer der Wochenzeitung Die Zeit Gerd Bucerius (1906-1995) gegeben, nachdem er vom Regierenden Bürgermeister Berlins, Otto Suhr (1894-1957), eine kleine Bärenskulptur erhalten hatte. Bucerius wollte in der politisch nach wie vor angespannten Situation mit den Berliner Meilensteinen Solidarität mit West-Berlin symbolisieren und an Berlin als Deutsch-lands Hauptstadt erinnern.
Dem Rundschreiben zufolge sollten in der Bundesrepublik auf drei nach Berlin führenden Autobahnen alle 100 Kilometer, ausgehend von dem zu diesem Zeitpunkt in der ostdeutschen Hauptstadt Berlin gelegenen preußischen „Null-Meilenstein“ auf dem Dönhoffplatz, jeweils ein Meilenstein – insgesamt derer 17 – aufgestellt werden.
Es wurden wesentlich mehr. Was im Wesentlichen an der Tatkraft des in rund 160 Städten der Bundesrepublik mit einem Ortsverein vertretenden Bund der Berliner und Freunde Berlins lag. Dessen Bundesverband stellte interessierten Städten durch Bundesmittel finanzierte Meilensteine zur Verfügung und sorgte so für eine weite Verbreitung.
Die Gestaltungsvorgabe für die Berliner Meilensteine wurde mit dem Rundschreiben versandt. Wie alle Meilensteine ziert auch den unscheinbaren, etwa 120 Zentimeter hohen, fast weißen quaderförmigen Kunststein in Wolfsburg ein von der Berliner Künstlerin Renée Sintenis (1888-1965) im Jahre 1954 entworfenes Bärenrelief. Der im linken Profil auf den Hinterbeinen stehende Bär zeigt mit der erhobenen rechten Tatze nach Berlin. Darunter ist die jeweilige Kilometerzahl nach Berlin angegeben.
Wolfsburg entschied sich im Rahmen der Berliner Woche 1960 dazu, einen der „Standardsteine“ in Wolfsburg aufzustellen. Das Wolfsburger Exemplar wurde am 3. April 1960 durch Arno Scholz (1904-1971), Präsidialmitglied des Bundes der Berliner und Freunde Berlins und des Kuratoriums Unteilbares Deutschland, auf dem Rathausvorplatz eingeweiht. Einen feierlichen Rahmen erhielt die Enthüllung, der viele Wolfsburger beiwohnten, durch die dargebrachten Berlin-Lieder der Schöneberger Sängerknaben.
Wie fast alle Berliner Meilensteine war auch der Wolfsburger an einer gut sichtbaren Stelle aufgestellt: auf dem Mittelstreifen der Porschestraße. Doch handelte es sich dabei nicht um den ihm eigentlich angedachten Platz. Wie aus dem Auszug der Sitzungsniederschrift des Verwaltungsausschusses vom 1. März 1960 hervorgeht, war die Porschestraße nur vorübergehend als Standort vorgesehen, wurden doch am künftigen Standort 1960 Straßenarbeiten durchgeführt. Wann diese in der Siemensstraße beendet waren und der Berliner Meilenstein an seinen heutigen Standort umgesetzt wurde, kann aus den vorliegenden Unterlagen nicht ermittelt werden.
Quelle: IZS HA 12, Band 1
Seine Bedeutung hat sich gewandelt, und ein bisschen sieht man es ihm auch an: Er strahlt schon lange nicht mehr so hell, die Zeit hat ihm Patina verliehen. Aus dem Solidaritätszeichen von einst ist nun ein Erinnerungsstein geworden – und möglicherweise wird er sogar zu einem Denkmal.
Bereits am 21. Januar 1954 kam in einem Artikel der Zeit hoffnungsvoll zum Ausdruck: „Möge das, was wir jetzt als ein Mahnmal an unsere Straßen setzen, in nicht zu ferner Zeit nur mehr ein Erinnerungszeichen sein an einen Zustand, dessen Unhaltbarkeit die Welt längst eingesehen hat!“ Dieser erhoffte Wandel seiner geschichtlichen Bedeutung hat dann doch deutlich länger auf sich warten lassen.
Kümmerte sich bis 1998, dem Jahr seiner Auflösung, noch der Bundesverband des Bundes der Berliner und Freunde Berlins um die Aufstellung der Berliner Meilensteine, so sind es heute der Verein der Berliner Bärenfreunde und die Initiative Denkmalschutz für Berliner Meilensteine, die sich um den Erhalt und Schutz dieser kleinen Kulturdenkmale bemühen und sie in unserer Erinnerung wach halten wollen.
Der Verein der Berliner Bärenfreunde forscht seit 2008 nach Berliner Meilensteinen und Berliner Bären, die zwischen dem Aufstand des 17. Juni 1953 und dem Fall der Mauer am 9. November 1989 in Deutschland, Europa und der Welt aufgestellt wurden.
In Wolfsburg wurden neben dem Berliner Meilenstein auf der Siemensstraße mit dem Namensstein auf der Berliner Brücke (1957), den ebenfalls der kleine Bär der Berliner Künstlerin Renée Sintenis ziert, und dem Berliner Bären (1992) von Anatol Buchholz (1927-2011) an der Kreuzung Berliner Ring/Reislinger Straße zwei weitere Symbole der Verbundenheit mit Berlin aufgestellt. Für alle Wolfsburger Berlin-Bären hat der Verein der Berliner Bärenfreunde im Juli 2015 einen Antrag auf Denkmalschutz gestellt.
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